Sind Sie anerkannter Drogendealer? Und bekommen Sie häufig Besuch von der Polizei? Dann sollten Sie künftig immer behaupten, dass bei einer Durchsuchung aufgefundener Stoff uralt und bei der letzten Durchsuchung übersehen worden sein müsse. Erklären Sie, Sie kauften ohnehin nur noch für den Eigenbedarf ein und dass Sie kein weiteres Wort sagen würden. Kann gut sein, dass Sie – relativ – ungeschoren davonkommen.
Für die Juristen unter uns: Der Fachbegriff heißt „Strafklageverbrauch“. Das bedeutet, dass niemand wegen einer Tat zweimal verurteilt werden darf. Keiner weiß, ob der 51-jährige Dealer diesen Begriff schon 2018 kannte, als die Polizei wieder einmal bei ihm auftauchte und einen Packen Amphetamin fand, aber er mag ihm in einem heutigen Verfahren zupasskommen. Seine (Pflicht-)Verteidigerin, jedenfalls, Miriam Mager aus Villingen-Schwenningen, versteht ihren Job und kennt den Begriff.
Der Fall: Der stadtbekannte, groß gewachsene Mann gilt gemeinhin als mutmaßlicher Drogendealer. Er war mehrfach wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz in Haft, vor gut 20 Jahren das erste Mal. Zuletzt 2010 bis 2011. Die Polizei ist häufiger Gast in dem von ihm bewohnten Haus in der historischen Innenstadt von Rottweil. 2016 fand dort eine Durchsuchung statt, 2018 wieder. Zudem im vergangenen November und jetzt erst vor wenigen Tagen. 2016 wurden dort kleinere Menge Drogen gefunden. Das ließ vor allem den ermittelnden Beamten, einen 54-jährigen Rottweiler Polizei-Oberkommissar, unzufrieden zurück. Er und seine Kollegen versuchten es immer wieder.
Und tatsächlich: 2018, nachdem sie das Haus drei Monate lang observiert und täglich bis zu 30 Menschen kommen und gehen gesehen haben, schlugen sie wieder zu. Drehten bei einer erneuten Durchsuchung alles auf links. Und fanden: 330 Gramm Amphetamin in einer Tupperdose in einem kleinen Gefrierschrank in der Küche. Marktwert: gut 3000 Euro.
Sie dachten, diesmal hätten sie den Rottweiler mutmaßlichen Drogendealer, nennen wir ihn Herrn W., dran gekriegt. Pustekuchen. Der Mann behauptet seither, der Stoff sei alt und bei der Durchsuchung 2016 schlicht übersehen worden. Der juristische Knackpunkt: Für den Besitz der damals aufgefundenen Drogen ist der Mann schon verknackt worden. Hat er das Amphetamin schon damals besessen, hat es tatsächlich mehr als zwei Jahre lang unberührt in der Tupperdose in dem kleinen Gefrierschrank gelagert – nun, dann kann der Mann dafür nicht mehr belangt werden. Zu diesem Urteil kam das Amtsgericht Rottweil im Februar 2019. Freispruch für den Vorwurf des Handeltreibens mit Betäubungsmittel in nicht geringer Menge.
Der Staatsanwalt war damit nicht zufrieden und ging in Berufung. Die stand, das machte der Vorsitzende Richter am Landgericht Rottweil, Thomas Geiger, beim Verhandlungstermin der Strafkammer am Dienstag deutlich, auf wackeligen Füßen. Denn am Staatsanwalt hätte es gelegen, stichhaltige Beweise gegen den 51-jährigen W. zu liefern. Und zwar dafür, dass das Amphetamin frisch gewesen ist, keinesfalls jahrelang im Eisschrank lagerte.
Doch das klappte nicht. Der Kripobeamte – der, das ließ er gegenüber der NRWZ durchaus durchblicken, W. gerne verurteilt gesehen hätte, vor allem im Hinblick auf die Wirkung auf andere Dealer und auf die Öffentlichkeit -, dieser Kripobeamte konnte den Nachweis nicht erbringen, dass es sich mit dem angeblich alten Amphetamin nur um eine Schutzbehauptung handelt. Er konnte nur beteuern, dass bei Durchsuchungen immer die Kühl- und Gefrierschränke inspiziert würden, auch, wenn es wie im Falle von W. derer insgesamt drei in einer Wohnung gibt. Dann hätte die Tupperdose mit dem Stoff ja schon 2016 gefunden werden müssen.
Umgekehrt wird aber für Juristen kein Schuh draus – aus einer Unwahrscheinlichkeit, dass man das Amphetamin bei der ersten Durchsuchung übersehen habe, werde kein Beweis dafür, dass es damals noch nicht vorhanden gewesen sei, so Richter Geiger. Das ist Wortklauberei, mag man da denken, aber für den 51-Jährigen geht es, wie so oft vor Gericht, um Knast oder nicht. Da klauben Juristen auch mal Worte.
Richter Geiger zeigte sich auch unzufrieden mit den Ermittlungen der Polizei. Die hatte das Haus des angeklagten W. vor der Aktion 2018 drei Monate lang überwacht, hatte seine Handydaten überprüft, hatte auch mögliche Kunden des mutmaßlichen Dealers auf Video. „Hätten Sie doch nur einen der Besucher kontrolliert“, so der Richter, die ein verdächtiges Beutelchen mit weißem Inhalt dabei hatten. Dann hätte man dessen Wirkstoffgehalt mit dem des Eisschrankfunds vergleichen können, kombinierte Richter Geiger weiter. Das aber sei unterblieben, aus ermittlungstaktischen Gründen, wie der Kripobeamte sagte, für Geiger unverständlich.
Übrigens: In CSI Miami geht das sicher – das Alter von Amphetamin bestimmen. Das könnte Horacio Caine wohl schon nach einem kurzen Schnüffeln auf wenige Wochen genau. Im richtigen Leben ginge das leider nicht, so der Kripobeamte auf Nachfrage des Richters.
Auch eine Zeugin, eine 36-Jährige, die jahrelang im Haus des Angeklagten gewohnt hatte und jetzt mit ihm zerstritten ist, war keine Hilfe. Eigentlich im Gegenteil. Sie hatte in einem der Kühlschränke von W. etwa eine Spritze mit Selbstbräuner gelagert. „Schönheitszeug“, nannte es Richter Geiger. Diese Spritze war bei der ersten Durchsuchung von der Polizei nicht eingetütet worden. Und möglicherweise auch schon damals vorhanden gewesen, so die 36-Jährige. Ein Hinweis darauf, dass die frühere Durchsuchung nicht so gründlich gewesen ist? Seine beiden Hunde, die W. früher gehalten hat, hätten die Aktion gestört, ließ der Mann über seine Verteidigerin verlesen.
Er gab damit nur zu, was auf der Hand liegt und was er früher schon zugegeben hatte. Dass er eben Drogen konsumiere, in kleinen Dosen aber nur und auch bloß als Therapie gegen sein langjähriges Rückenleiden. Und die gut 300 Gramm Amphetamin – schlicht im Eisschrank vergessen. Mehr, genauer gesagt etwas anderes, konnte ihm bislang auch der ermittelnde Polizei-Oberkommissar (Zitat: „Ich bin schon viele Jahre Polizist in Rottweil und es hieß immer, dass der Herr W. mit Drogen zu tun hat“) nicht nachweisen.
Der Staatsanwalt, der aber will mehr. Sehr zum Ärger von Richter Geiger, der den Fall für aussichtslos verloren hält für die Strafverfolgungsbehörde. Der Staatsanwalt will weitere Zeugen hören. Nicht nur den Bewährungshelfer W.s, dessen Vernehmung am Dienstag angesetzt war, im Eifer des Gefechts aber offenbar vergessen worden ist. Auch die an den beiden Hausdurchsuchungen beteiligten Polizeibeamten sollen gehört werden.
„Das bringt doch keinen Erkenntnisgewinn“, donnerte Richter Geiger da los und packte wütend die Akten in die eigens dafür mitgebrachte Obstkiste zurück. „Ich sehe nicht, was hier am Ende rauskommen soll“, erklärte er weiter. Er erwarte, dass über die Aussagen der Beamten nicht nachgewiesen werden könne, dass das Amphetamin ganz sicher nicht bei der früheren Durchsuchung da gewesen und übersehen worden sei.
„Aber bitte, kein Problem, wir verhandeln gerne zwei weitere Tage lang“, so der Richter erbost – der das Gegenteil des Gesagten meinte. Ihm seien zwar Verfahren lieber, die Sinn ergäben, aber er führe, „meinetwegen“, auch Verfahren, die weniger Sinn machten. Müssten andere Prozesse eben zurückstehen.
Keinesfalls, das fügte Geiger an, werde er auf seinen Urlaub verzichten, den er bis September zu nehmen habe und der noch 30 Tage betrage. Punkt. Und ein Kopfschütteln.
Doch der Staatsanwalt blieb dickköpfig. Es wird also am 23. Juni nochmal in der Sache verhandelt. Und, wenn Richter Geiger recht behalten sollte, wird der 51-jährige W. den Saal wieder als freier Mann verlassen.
PS: Die von der Polizei in den drei Monaten Überwachung beobachteten und identifizierten Kunden des mutmaßlichen Dealers W. sind ihrerseits in den Fokus der Ermittlungen geraten. Als Zeugen für W.s Fall wurden sie allerdings nicht befragt.
Quelle: Peter Arnegger, NRWZ vom 2. Juni 2020
https://www.nrwz.de/rottweil/der-richter-stinksauer-der-staatsanwalt-dickkoepfig-der-mutmassliche-drogendealer-weiterhin-frei/265519